"Simon!", die dumpfe, laute Stimme hallte durch den grünen Laubwald. Simon, der unter einer jungen Eiche bequem im Schatten lag und durch das junge Laubdach in die weite Zukunft blickte, hörte sie wohl, beschloß aber, daß er zuerst noch den Drachen töten und das schöne Mädchen befreien wolle. Schließlich hat man ja so seine Pflichten als Held.

"Simon!", die Stimme wurde drängender und auch eine Spur ärgerlicher. Sie mußte einem großen Hexer gehören, denn so sehr sich Simon auch anstrengte, zog sie ihn doch immer weiter fort von dem dunklen Turm, in dem das schöne Mädchen vom grünen Drachen bewacht wurde. Und dann war da nur noch das goldgelbe Licht, das durch die grünen Blätter strahlte. Mit einem Seufzer erhob sich Simon. Es ist besser den Onkel nicht zu lange warten zu lassen, dachte er sich, sonst würde er morgen nicht mehr zu Robert gehen dürfen. Mißmutig trottete er der Stimme entgegen.

Eine kleine, gedrungene Gestalt mit einem Besen in der Hand erwartete ihn schon. "Da bist du ja endlich! Sei so gut und bringe für mich die Kartoffelsäcke in den Vorratskeller, bitte. Und dann komm Abendessen.", ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand der Mann wieder in der Türöffnung.

"Ja, Onkel", rief Simon noch ins nichts hinterher. Seine Trägheit war verschwunden. Der Vorratskeller! An keinen Ort in Lumberhill wäre Simon lieber gegangen. Er beeilte sich die schweren Leinensäcke zu schultern und nahm den großen Schlüssel vom Haken neben der Holztreppe, die mit mehreren Windungen ins Geäst einer uralten Eiche führte. Am Ende dieser Treppe, von Ästen und Laub fast verborgen, befand sich der Hochwirt.

Das Gasthaus gehörte seinem Onkel, und es war das einzige Haus in Lumberhill, das auf einem Baum errichtet war. Als Simons Onkel das Haus erbaut hatte, hatte er sich viel von dieser ungewöhnlichen Lage versprochen.

"In dieser Höhe überlegt man es sich zweimal, ob man sich völlig betrinkt und eine Rauferei anfängt!", pries Hermann Steinhackl, so hieß nämlich Simons Onkel, noch heute die "einmalige Lage" des Wirtshauses.Doch brachte sie nicht nur Vorteile. Aus Platzgründen konnte im Baum keine große Vorratskammer gebaut werden, und so befand sich der Lagerkeller in einem kleinen Hügel etwas abseits der großen Eiche.

Genau dorthin eilte Simon gerade. Er mußte die Säcke abstellen und seine ganze Kraft aufwenden, um die schwere Eisentür, die den schrägen Eingang zum Keller versperrte, aufziehen zu können. Mit einem dumpfen Schlag klappte sie schließlich auf die andere Seite und gab den Blick auf eine abwärts führende Holztreppe frei. Unten angekommen stellte Simon die Säcke neben dem Apfelfaß auf den Boden und schaute sich schnaufend um. Der Keller war eine rohe, in den Lehm gegrabenen Höhle, und obwohl die Frühlingssonne bereits kräftig schien, war es hier noch kühl. Hohe Holzregale voll beladen mit Gewürzen und getrockneten Früchten teilten den Raum in mehrere Bereiche. Links von der Holztreppe waren die Wein- und Bierfässer gestapelt, rechts standen die Kartoffel- und Mehlsäcke und die Apfel- und Sauerkrautfässer. Weiter hinten, wo das Sonnenlicht fast nicht mehr hinkam, teilte ein grober Leinenvorhang eine weitere Kammer vom Hauptraum. Dorthin zog es Simon. Er schob den Vorhang zur Seite und stand in "seiner" Kammer. Natürlich gehörte die Kammer nicht ihm, denn sie wurde vorwiegend zum Aufbewahren von Würsten und anderen Fleischwaren benutzt, aber im hintersten Eck der Kammer stand Simons Schatz, eine große, eisenbeschlagene Truhe. Sein Vater hatte sie ihm vererbt, doch obwohl er der rechtmäßige Eigentümer der Kiste war, gab Simons Onkel ihm die Schlüssel noch nicht. Er hielt die Truhe für "zu gefährlich" für einen Jungen in Simons Alter, und so hat er beschlossen, die Schlüssel bis zu Simons 19. Geburtstag zu behalten.

Herr Steinhackl hatte keine sehr gute Meinung von Simons Vater, und er hätte die Heirat seiner Schwester mit diesem Streuner am liebsten verhindert, wenn es ihm möglich gewesen wäre. In seinem Augen war er ein Versager, der es nicht geschafft hatte, für sich und seine Familie ein sicheres Heim zu schaffen und der aus diesem Grund durch die ganze Welt streifte und sich auf gut Glück durchschlug. Es hatte ihn nicht viel gewundert, als eines Tages drei wildfremde Menschen auftauchten und seine Kiste und Nachricht vom seinem Tod mitbrachten. Um ehrlich zu sein, er hatte es nicht nur erwartet, sondern sogar erhofft, denn als die Unglücksmeldung kam, zog seine Schwester mit ihrem Sohn zu ihm. Simon war damals erst knapp zwei Jahre alt, und er hatte seinen Vater nicht zu Gesicht bekommen.

Trotzdem hatte er ein ganz eigenes Bild von ihm. In seinen Tagträumen kämpfte er Seite an Seite mit seinem Vater, dem edlen Ritter, gegen Räuber, eroberte große Schätze und entdeckte neue Gebiete. Seine Mutter zeigte ihm einmal ein Schmuckstück, das er ihr aus einer Stadt weit im Süden mitgebracht hatte. Es glänzte im Sonnenlicht wie die Sonne selbst, und in der Mitte der Brosche war ein feuerroter Edelstein eingelassen. Sie behauptete es sein magisch und bringe ihr Glück, und darum trug sie es immer bei sich. An diese Brosche mußte Simon jetzt denken, als er auf die Truhe blickte. In seiner Phantasie malte er sich all die Schätze aus, die sich in ihr befinden konnten. Vielleicht hatte sein Vater ihm ein Schwert hinterlassen, oder ein Beutel voll mit diesen roten Edelsteinen, oder vielleicht eine Karte mit der man durch hunderte von Gefahren schließlich zu einem Schatz gelangen konnte! Simon streichelte ein paar mal gedankenversunken über die Truhe, dann setzt er sich und lehnte sich an die Wand.

Während seine Augen immer und immer wieder durch die Truhe hindurchzublicken versuchten, gab er sich seinen Träumen hin. Es war ja so ungerecht! Warum konnte sein Onkel ihn daran hindern, seinen Besitz zu betrachten? Wäre seine Mutter noch am Leben, sie hätte ihm die Truhe längst schon geöffnet. Überhaupt - Simon hatte es ja so satt, immer nur in Lumberhill herumzuhocken. Sicher, da war Robert, und mit ihm konnte man viel Spaß haben, aber ihre ganzen Spiele - selbst die aufregendsten Streiche - das alles waren doch keine richtigen Abenteuer! Statt Ruhm und Ehre erwarb man höchsten einige feste Ohrfeigen, statt als Held gefeiert zu werden, wurde man als Nichtsnutz auf das Zimmer geschickt und statt einem köstlichen Festmahl am Ende gab´s überhaupt kein Abendbrot! Dabei müßte die Welt ihn nur lassen. Sie würden schon sehen, daß er mehr als genug Mut und Tapferkeit besaß! Es war alles so ungerecht. In seiner verzweifelten Wut trat er gegen die Kiste. Doch auch diesmal tat sie mit keinem Geräusch ihren Inhalt kund.

Als Simon wieder zurück zum Gasthof kam, dämmerte es bereits, und der Hochwirt hatte bereits vollen Betrieb. Simon konnte die lauten, lachenden Stimmen, das Scheppern der Bierkrüge, die Musik und das Stampfen der Tanzenden deutlich hören. Er hängte den Schlüssel zurück an seinen Haken, und stieg die schmale Holztreppe hinauf. Die Tür zum Schankraum war weit offen, und er konnte seinen Onkel sehen, der schwitzend die Bierkrüge umhertrug, bemüht, mit jedem Gast ein paar freundliche Worte zu wechseln. Auch der typische Gasthausgeruch nach Schweiß, fettem Essen und Alkohol schlug Simon entgegen.

Fürs Abendessen war es jetzt wohl schon zu spät, denn sein Onkel würde sich nicht die Zeit nehmen, es ihm zu bringen. Simon war sich jedoch sicher, daß er sich Zeit für eine kurze Strafpredigt wegen Unpünktlichkeit nehmen würde, und so beschloß er, den Hintereingang zu nehmen. Zwar hatte der Hochwirt nur einen Eingang, aber in der Küche befand sich eine kleine, runde Öffnung im Boden, durch die man Nahrungsmittel und Wasser hochziehen konnte, und diese Öffnung war Simons Hintereingang.

Er stieg wieder den Baum hinunter und umrundete den gewaltigen Stamm, bis er zu einem herunterhängenden Seil mit daran befestigten Wassereimer kam. Mit gewisser Routine kletterte er das Seil hinauf und zwängte sich durch das schmale Loch. Nicht zum erstenmal fragte er sich dabei, wann er für diese Übung zu groß sein werde. Das Aufzugsloch befand sich im hinteren Eck der Küche und wurde vom Schankraum aus durch den großen Herd verdeckt. Hier im hinteren Teil der Küche befand sich auch die Leiter, die durch eine Holzluke in die oberen Räume, also zu den Schlafräumen, führte. So leise wie möglich schlich sich Simon zu der Brotablage, griff sich zwei Brotscheiben und flüchtete in seinen Schlafraum. Bis morgen würde sein Onkel längst vergessen haben, daß er nicht zum Abendbrot erschienen war.