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Der herbstliche Wald in seinen vielen Gelb- und Rottönen weckte in Lydia eine Lebensfreude, wie sie sie schon seit langem nicht mehr gespürt hatte. Während sie hinter den Männern den schmalen Pfad entlang ritt, lauschte sie den Stimmen der Vögel und beobachtete das Glitzern der Sonne in dem kleinen Bach, dem die Reiter nun schon seit Stunden folgten. Es war eine einsame, friedliche Gegend und so ganz anders, als sie sich die Wildnis immer vorgestellt hatte. Über siebzehn Jahre - ihr ganzes Leben lang - hatte Lydia Galwenpfalz für den schönsten Ort der ganzen Welt gehalten, hatte sich nicht einmal in ihren Träumen ausmalen können, daß es auch außerhalb der weißen Stadtmauern ein schönes Leben geben könnte. Der große Park der Akademie war ihr groß genug erschienen, und wenn sie auf den Zinnen einer der kleinen Türmchen gestanden und ins weite Land geblickt hatte, so war ihr das Ferne genug gewesen.

Seit ihrem fünften Lebensjahr war Lydia in der großen Gesangsakademie von Galwenpfalz aufgewachsen und ausgebildet worden. So berühmte Barden wie Reongard von Pfeifen und Hagan der Helle waren aus dieser Schule hervorgegangen, und bei Faugus Herz, Lieblingsbarde des Königs, hatte sie Unterricht genommen. Mit ihrem siebzehnten Jahr waren die großen Prüfungen gekommen. Wie auch alle anderen Barden aus Galwenpfalz, die vor ihr dort ausgebildet worden waren, hatte Lydia ihr musikalisches Talent auf verschiedenste Weise beweisen müssen, bevor sie als Zeichen ihres Standes die silberne Bardennadel hatte tragen dürfen.

Nach den großen Abschlußfeierlichkeiten war der traurige Abschied gekommen. Faugus hatte seine Schülerin in sein Zimmer gerufen und ihr gesagt, was er vermutlich schon duzenden von Schülern vor ihr gesagt hatte.

"Mit dem heutigen Tag bist du vor aller Welt ein Barde, und die Nadel an deiner Brust wird allen davon künden und dir so manches Tor öffnen. Wann immer dein Weg dich in die Hallen herrschaftlicher Häuser und Burgen führen wird, wird man deinen Gesang und deine Spielkünste bewundern und zu schätzen wissen. Und doch, so lange wirst du nicht wissen, was es heißt, ein echter Barde zu sein, so lange du dein Lied noch nicht gefunden hast. Oder, wie es vielleicht passender ist, dein Lied dich gefunden hat. Diese Akademie hat dich alles gelehrt, was sie dich zu lehren vermochte. Sie hat den rohen Edelstein in dir frei geschliffen und seinen wundervollen Glanz entfacht. Den letzten Schritt aber muß jeder Barde selbst vollziehen. Betrachte es als deine letzte Prüfung, wenn du so willst. Ziehe in die Welt und finde dein Lied, Lydia. Für jeden echten Barden gibt es irgendwo eine Melodie, die auf ihn wartet, und nur auf ihn. Du brauchst keine Angst zu haben, sie nicht erkennen zu können, denn sie wird sich von allen anderen Melodien unterscheiden und sich nur dir offenbaren. Ein jeder Barde wird eines Tages diese Welt verlassen, doch sein ihm eigenes Lied wird für immer verbleiben. Alle großen Werke, die du kennst, Lydia, sie alle waren die wahren Melodien ihrer Barden."

Die ersten Tage außerhalb der schützenden Mauern der Akademie waren wie ein Rausch gewesen. Die gesamte Welt, obwohl so vertraut, war Lydia fremd erschienen und heute konnte sie sich schon gar nicht mehr daran erinnern, was sie in dieser Zeit getan hatte. Irgendwann jedoch hatte die junge Bardin den Entschluß gefaßt, auch außerhalb der Stadt nach ihrer Melodie zu suchen. Ehrgeizig, wie sie nun einmal war, wollte sie aber nicht nur irgend ein Lied finden, sondern eines der großen, Jahrzehnte überdauernden Werke schreiben. Deswegen war sie hier. Deswegen ritt sie nun hinter zwei nach Schweiß riechenden Männern durch den Wald, in der Hoffnung auf ein Abenteuer ; in der Hoffnung auf das Abenteuer.

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Der Nachmittag war schon weit fortgeschritten, als die Reisegruppe endlich die kleine Siedlung an den Bergen erreichte. Gerade einmal elf Gehöfte standen in dem engen, von Wald umfaßten Tal beisammen, und keines davon machte einen besonders wohlhabenden Eindruck. Im Zentrum der Siedlung hatte sich an der meist begangenen Stelle eine Art staubiger Platz gebildet, der von einer großen Kastanie überschattet wurde. Einige Meter abseits davon befand sich ein einstöckiges Gebäude, das sich durch ein verrostetes Schild über dem Eingang als Schenke auswies.

Erwin, der Knappe, Begleiter und Freund des jungen Grafen Closoir, stieg als erstes vom Pferd. Mit der Linken wischte er sich den Schweiß aus seinem fettigen Gesicht, während er mit der Rechten die Zügel seiner kleinen, braunen Stute an einem Pflock festband. Dann wartete er, bis sich auch der Graf von seinem Pferd, einem starken, schwarzen Hengst, geschwungen hatte, um auch diesen anzubinden. Lydia erhielt keine Hilfe, aber das war sie auch nicht gewohnt. Nur adeligen Damen wurde aus dem Sattel geholfen und mit ihrem grau gescheckten, alten Hengst hätte man die Bardin wohl auch nie für eine Adelige halten können. Man mußte kein Pferdekenner sein, um zu bemerken, daß der Hengst seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte. Herbstwind war Lydias erstes Pferd, und als ungeübte Reiterin schätze sie seinen ruhigen Schritt, ganz gleich wie viele spöttische Blicke sie in den Straßen von Galwenpfalz dafür geerntet hatte.

Wie stets betrat Graf Closoir die Schenke als erster. Er legte großen Wert darauf, seinen gehobenen Stand für alle von Anfang an klar zu machen, eine Eigenschaft, über die sich Lydia im Geheimen lustig machte. Sie dachte dabei immer an Faugus und seine Beschreibung der Eitelkeit des Adels in einem seiner bekannten Schmählieder. "Auch die Distel am Wegesrande, blüht prächtig zu täuschen hinweg, daß auch mit hohen Stande, sie doch erfüllt keinen Zweck."

Die Gaststube war, wie von außen nicht anders zu erwarten, klein und etwas schmuddelig. Neben der kurzen Theke befanden sich nur drei Tische im Raum. An einem davon saßen drei Einheimische und spielten Karten. Sie sahen interessiert auf, als die drei Reisenden eintraten. Der älteste von ihnen, offensichtlich der Besitzer der Gaststätte, erhob sich und kam ihnen entgegen. Nach einer kurzen Musterung stellte er sich mit untertänigem Tonfall als Schankmann Balduar vor und bat sie, Platz zu nehmen. Dann verschwand er in die Küche, um ihnen eine warme Mahlzeit zu bereiten.

Die anderen beiden, nun ihres Spielpartners beraubt, musterten die Fremden ebenfalls neugierig. Graf Closoir war Derartiges gewohnt, und wenn Lydia sich nicht völlig in dem jungen Mann täuschte, so genoß er diese Blicke sogar. Überhaupt war der Graf ein recht geltungssüchtiger Mann, was ja schließlich auch der Grund für diese Reise war. Lydia hatte den Grafen in einer der nobleren Gaststätten von Galwenpfalz kennengelernt, gleich in der ersten Woche ihrer "großen Suche". An jenem Tag mußte ihr der Glücksstern günstig gesonnen gewesen sein, denn nur noch an seinem Tisch war ein Platz frei gewesen, und auf diese Weise kamen sie ins Gespräch.

Graf Leonhard Closoir war der Sproß des Grafen Bartolome Closoir, dem Landherren einer unbedeutenden Grafschaft im Süden des Reiches. Das Haus Closoir hatte den Adelstitel erst seit elf Generationen. Verliehen wurde er Tolmius Closoir, dem Vorahnen des heutigen Grafen, nachdem dieser in seiner Eigenschaft als Reichsritter einen Drachen bezwungen hatte. Seit jener großen Heldentat war die Familie der Closoir jedoch rasch wieder in Bedeutungslosigkeit versunken und der Glanz des Hauses war verblaßt. Hinzu kam, daß die Familie Closoir kein rechtes Geschick im Verwalten von Länderreihen besessen hatte, und der Grundbesitz der Grafschaft im Laufe der Jahre auf wenige Hektar Wald und Ackerland zusammengeschrumpft war.

Unter der mangelnden Anerkennung der anderen Adelsfamilien hatte Leonhard Closoir sein Leben lang gelitten, weswegen er nach Übernahme des Grafentitels im Alter von 22 Jahren beschlossen hatte, den Ruhm der Familie durch eine neuerliche Heldentat wieder aufleben zu lassen. Er machte es sich zum Lebensziel, Drachentöter zu werden.

Die Sache hatte nur einen nicht unwesentlichen Haken: Die Zeit der großen Würmer und Ungeheuer war seit Jahrzehnten vorbei. Sämtliche Drachen schienen ausgerottet zu sein oder hatten die Länder der Menschen verlassen. Nichts desto trotz wahr es Leonhards ehrgeiziges und einziges Ziel, eines dieser Ungeheuer zu finden und zu töten. Zusammen mit seinem Freund und Knappen Erwin begann er das Reich zu durchstreifen. Er hatte sich geschworen, nicht eher zurückzukehren, als daß er den Kopf eines Drachen erbeutet hatte.

Als Lydia die Geschichte erfahren hatte, war ihr mit einem Mal ihre große Chance bewußt geworden. Die berühmtesten Bardenlieder aller Zeiten waren aus Stoff wie diesem! Es hatte sie nicht viel Überredungskunst gekostet, den eitlen Grafen davon zu überzeugen, wie nützlich ein Barde bei so einer Heldentat sein könnte. Mit der Aussicht in einem heldenhaften Lied besungen zu werden, hatte Graf Closoir sofort eingewilligt, sie als Reisebegleiterin zu akzeptieren.

Diese erste Begegnung war vor sieben Monaten gewesen. Seit damals waren sie zu dritt durch die Westteile des Reiches geritten und hatten jedem Gerücht nachgespürt, schien es auch noch so unbedeutend. Als ein fahrender Kesselflicker ihnen von einer Bestie in dem Riesenzahngebirge berichtete, waren sie sofort in diese entlegene Region am Rande des Reiches geritten. Nur wenige bestätigten den ursprünglichen Bericht, und viele Spuren deuteten in verschiedene Richtungen, doch schließlich verdichteten sich die Hinweise darauf, daß sich ein Drache in der Nähe der kleinen Siedlung Kleinwassertal befinden sollte, und nun waren sie hier.