Die Menschenansammlung war beachtlich. Seit seiner Hochzeit mit Lady Zirana von Appelino hatte König Gireano nicht mehr so viele Menschen am Platz der Krone versammelt gesehen. Seufzend ließ er den Purpurvorhang, der seinen Audienzsaal vom großen Balkon trennte, wieder fallen und drehte sich um. In dem großen, kühlen Saal waren weit weniger Menschen, doch noch immer viel zu viele für ihn. Anders als bei der Menge im Freien kannte er jeden der hier Anwesenden beim Namen, doch das machte die Sache noch viel schwieriger. Bekümmert ließ der König seinen Blick von einem zum anderen schweifen. Die meisten Blicke waren bekümmert, doch ein Augenpaar bohrte sich stechend in seinen Kopf.

Königin Zirana stand aufrecht und stolz direkt neben dem Eingang. Sie wurde flankiert von vier Wachsoldaten, die sich redlich bemühten, aufmerksam zu sein und zugleich unauffällig zu wirken. Neben ihnen, in einigem Abstand, stand Hauptmann Gjalde in polierter Rüstung. Er war es, der den Befehl schließlich zu vollstrecken hatte. Lady Riane von Reiermünd und Lady Elenore von Friedhyf, die beiden Gesellschafterinnen der Königin, standen verunsichert und unschlüssig neben der Bücherwand und tupften sich mit ihren Tüchern abwechselnd die Augen und das Gesicht ab. Der Zeremonienmeister und persönliche Ratgeber des Königs, Gjert Gollerböck, stand dem Thron am nächsten. Er klammerte sich an seinen silbernen Stab, als könnte dieser ihm in der schwierigen Situation Halt geben.

"Gibt es wirklich keine Alternative?" Allein der Tonfall des Königs gab schon Antwort auf die gestellte Frage. Sie hatten tagelang darüber diskutiert. Möglichkeiten erwogen und wieder verworfen. Zuerst nur im kleinen Kreis, auf Diskretion bedacht, doch als sich keine Lösung fand, hatte man sogar einen Aufruf an das Volk geschickt. Unwillkürlich fiel des Königs Blick auf die unter einer Glaskuppel aufbewahrte Schriftrolle. Seit sie im Tempel der heiligen Väter aufgetaucht war, hatte König Gireano keine Nacht mehr ruhig geschlafen. Er hatte alles erwogen - ja, selbst das Orakel der Aufrührerei zu beschuldigen - doch es schien keinen Ausweg zu geben. "Mein Herr", der Zeremonienmeister machte eine respektvolle Pause, bevor er weiter sprach, "das Volk wartet auf seinen Herrscher." Nach einem letzten Blick auf seine Gattin drehte sich der König um, faßte sich, und betrat mit schweren Schritten den Balkon. Ein kurzes Raunen ging durch die Menge und wurde von völliger Stille abgelöst. Der Zeremonienmeister trat neben den König und reichte ihm den vorbereiteten Text. König Gireano konnte diesen Text längst auswendig, und doch war er froh, sich an den Sätzen festklammern zu können.

"Mein Volk! Große Dunkelheit umwölkt den heutigen Tag und beschattet unser aller Seelen. Wie ihr alle wißt, leiten uns die weisen Einsichten des Orakels, überbracht von den ehrenwerten Brüdern der Sonne, schon seit Jahrhunderten durch die stürmische See unseres Daseins. Nicht enden wollend ist die Liste jener Ereignisse, die nur durch die führenden Hände der Göttin Siglyndia, Herrin der Weisheit und des Wissens, zu bewältigen waren. Niemals täuschte uns ihr Rat, und wenn auch der Weg manchmal düster und beschwerlich schien, so stellte er sich stets als der richtige heraus. Heute stehen wir abermals vor einer Entscheidung, und der Weg, der vor uns liegt, ist dunkler als je zuvor. Das Orakel weissagte, daß nur eine einzige Tat unser geliebtes Reich beschützen kann, und doch ist dies die schwierigste Entscheidung meiner Regentschaft."

König Gireano zögerte. Das Volk brauchte die ganze Wahrheit nicht zu wissen. Es sollte seine Königin in ehrenvoller Erinnerung behalten. Nie sollte man ihrer als Verräterin gedenken!

"Großes Unglück kann nur verhindert werden, wenn unsere Königin, meine über alles geliebte und verehrte Gemahlin, das Land für immer verläßt. Gemäß der Empfehlung des Orakels wurde daher beschlossen, Königin Zirana in einer vernagelten Kiste dem Ozean zu überlassen."

Das Raunen der Menge schwoll an wie ein hereinbrechender Sturm. Selbst auf diese Entfernung konnte der König die ungläubigen, ja entsetzten Gesichter der Menschen sehen. Mit letzter Kraft beendete er seine Rede, doch die Worte waren kaum mehr zu verstehen: "Möge Helwires, der Gott der Seefahrt und der Wässer, sie einer sicheren Bleibe zuführen."

***

Als der letzte Hammerschlag verklungen war, lief ein kalter Schauer über den Rücken des Königs. Die ihn umgebende Stille wurde nur vom regelmäßigen Rauschen des Meeres gestört. Hier, im kleinen Hafen von Tiranak herrschte für gewöhnlich ein geschäftiges Treiben, doch gerade jetzt waren die Stege wie ausgestorben. Natürlich wußte der König, daß über tausend Mann seiner persönlichen Leibwache die Menschen vom Hafen fernhielten, und doch erschien es ihm als ein unheilträchtiges Symbol.

Die Kiste war aus festem Edelholz gefertigt. An ihrer Unterseite war ein bleiernes Gewicht befestigt, um ein Umkippen zu verhindern. Das Innere der Kiste war mit Polstern ausgestattet und man hatte für ausreichend Nahrung und Wasser gesorgt, sodaß die Königin zumindest mehrere Tage lang überleben würde. Und doch wußte König Gireano genau, daß es ein Todesurteil war. Kein Land lag jenseits diesen kalten Meeres, und kein anderes Meer auf dieser Welt war stürmischer um diese Jahreszeit.

Da tauchte plötzlich dieser Mann auf. Allein seine Anwesenheit war schon rätselhaft, sollte doch kein Fremder bis zum Hafen vordringen können. Ohne recht zu wissen warum, schwieg der König, während sich der Mann über den endlos langen Steg gemessenen Schrittes näherte. Er schien es nicht eilig zu haben, und so hatte der König genügend Zeit ihn eingehend zu betrachten, bis er schließlich auf Hörweite herangekommen war.

Es war ein recht junger Mann, höchstens dreißig Jahre alt, und seine Kleidung war schlicht und dennoch kleidsam. Er trug einen grünen Gehrock, wie ihn viele Wanderer hierzulande tragen, zusammengehalten von einem hellbraunen Gürtel aus Hirschleder. Seine Stiefel waren schlicht und fest. In der Linken hielt der Mann einen groben, schwarzen Stock. Als er näher kam, erkannte der König auch das Gesicht des Mannes. Es wirkte glatt und kantig, wobei der gepflegte, schwarze Vollbart, der unten spitz auslief, diesen Eindruck noch verstärkte. Die schwarzen, glänzenden Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, der bei jedem Schritt pendelte. Knapp vier Meter vor dem König hielt der Fremde an, und verbeugte sich tief. Erst jetzt fiel dem König auf, daß keiner seiner Wachen bisher eingegriffen hatte. Vermutlich hätte ein kurzer Wink gereicht, doch der Mann interessierte den König, und so winkte er ihn heran.

"Wer seid Ihr, und was wollt Ihr hier?"
"Verzeiht, Eure Majestät. Mein Name ist Friedwick Sultgenstein und ich bin ein treuer Untertan aus Euren östlichsten Landen, der Grafschaft Ulanger. Ich bin ein bescheidener Wandersmann, und so konnte ich Euch nicht schneller erreichen, nachdem ich von dem schrecklichen Ereignis erfahren hatte. Ich eilte, so schnell es mir möglich war."

Als der König in die klaren, braunen Augen des Mannes blickte und dessen Worten lauschte, schöpfte er zum ersten Mal seit Wochen wieder Hoffnung. Wäre es möglich, daß dieser Mann eine Lösung kannte, die sie alle nicht gesehen hatten?

"So sprecht klar und verständlich, was ihr mir zu berichten gedenkt. Welchen Rat könnt Ihr Eurem Herrscher in so schwieriger Lage geben?"

"Fern liegt es mir, mich zu erdreisten, meinem Herrscher einen Rat zu geben, und doch denke ich, daß meine Worte hilfreich sein könnten. Seit Jahr und Tag ist es meine Berufung, Geschichten zu erzählen. Ich bereiste viele Länder und hörte und sah so manches. Manch einer nannte mich weise, doch diese Bezeichnung ziert mich nicht. Die Weisheit liegt stets im Zuhörer, meine Geschichten beinhalten sie nicht. Wenn es meiner Majestät jedoch gefällt, so möge er mir für eine kurze Geschichte sein Ohr leihen." Abermals verbeugte sich der Geschichtenerzähler tief. "So sei es denn." Auf seinen Wink hin brachten zwei der Wachen zwei gepolsterte Stühle, und nachdem sich beide niedergelassen hatten, begann Friedwick mit seiner Geschichte.